»Es ist ein ganz und gar originelles Buch, das, ausgehend von
Heinrich Heine und seinem 1847 für London geschriebenem ›Abraxas‹-Libretto,
ein ungeheuer komplexes Netzwerk über den Stoff als Spiegel der
historischen Verhältnisse in Frankreich, Deutschland und Europa
(mit Seitenblicken auf Amerika) und den Nachwirkungen des sogenannten
Münchner ›Abraxas‹-Skandals bis ins Jahr 1997 (200.
Geburtstag von Heine) ausbreitet. Es ist nicht zuletzt eine Reflexion
des Autors – sehr im Sinne Heines – über die bleiernen
Jahrzehnte der deutschen Nachkriegs-Restauration während der Adenauer-
und Kiesinger-Ära nach dem Zweiten Weltkrieg.
Im Mittelpunkt steht die Kreation der Münchner ›Abraxas‹-Uraufführung
mit Werner Joseph Mayer (alias Werner Egk) und Marcel Fenchel (alias
Luipart) als Protagonisten – nicht zu vergessen schliesslich Dr.
Alois Hundhammer, den bayerischen Kultusminister. Aber Poeschel holt
viel, viel weiter aus, und so kommen die Ballets Russes von Diaghilew
samt ihren Nachfolgeorganisationen, besonders das Ballet Russe de Monte-Carlo
mit Massine und René Blum, aber auch das KDF-Ballett Derra de
Morodas ins Spiel, die deutsche Besatzung von Paris mitsamt der Salon-Hautevolée
um Lifar, der Münchner Ballett-Neubeginn nach 1945 mit dem Orlikowsky-Thriller
des Mordanschlags auf Kölling und die Tournee-Kompanie mit Helge
Pawlinin. Luiparts Karriere und seine ›Abraxas‹-Originalchoreografie
erfahren eine geradezu apotheotische Verklärung – Egks hemmungsloser
kulturpolitischer Opportunismus eine ebenso gnadenlose Verdammung (wie
sie Heine nicht ätzender formuliert hätte). Nun bilde ich
mir ein, eine Menge über die deutsche und internationale Ballettszene
zu wissen – nicht über den originalen Münchner ›Abraxas‹,
doch von der Berliner Einstudierung von Janine Charrat an. Gleichwohl
macht mich Poeschel immer wieder staunen über die vielen zusätzlichen
Informationen, die er ausgegraben hat – nicht zuletzt darüber,
dass Goebbels und Göring nach dem Endsieg Les Ballets de la Nouvelle
Europe planten mit Residenz in der Berliner Kroll-Oper (die genau dem
heutigen Reichstag gegenüber lag). Schliesslich war ich verblüfft,
über die Parlaments-Debatte im Anschluss an den ›Abraxas‹-Skandal
zu lesen – viel zu ausführlich, wie ich meine, aber staunend
über das Niveau, auf dem debattiert wurde. Ich meine, in der ganzen
deutschen Parlamentsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg – weder
in München noch in Bonn oder Berlin - ist je wieder auf diesem
Niveau über Kulturpolitik diskutiert worden.
Um so erstaunlicher, dass das Erscheinen dieses singulären Buches
so total ignoriert worden ist – dass man fast auf den Gedanken
kommen könnte, es sei bewusst boykottiert worden.«
(Horst Koegler, koeglerjournal,
Stuttgart, 09.09.2004)